Mittwoch, 4. März 2009

Liebesgeschichten, 3. Kapitel

Mit einer Fluppe zwischen den Lippen und einem aus unerklärlichen Gründen schlechtes Gewissen ging er bedächtig, doch nicht langsam, die Stufen des Treppenhauses hinunter. Jeder Schritt hinterließ ein dumpfes Geräusch, genauso wie das Herz, das in ihm allmählich seinen normalen Gang wiederaufnahm. Er hatte nicht erwartet, dass es so heftig sein würde, so schmerzvoll. Er verstand es, er wusste weshalb sie so gehandelt hat und er akzeptierte diese Entscheidung. An ihrer Stelle hätte er nicht anders gehandelt. So oder so, irgendwann wäre es passiert. Doch wünschte er sich, das irgendwann ein Synonym für ewig wäre. War es aber nicht.
Kurz bevor er die Tür erreichte durchzog ihn ein Schauer. Das schlechte Gewissen, dachte er. Er war sich keiner Schuld bewusst und doch im klaren darüber, dass dies im völligen Gegenteil zu dem stand, was er tatsächlich getan hatte. Verdammt nochmal, er hat sie geliebt. Verdammt, er hätte an diesem Abend den Stift einfach liegenlassen sollen, an seinem Platz, in der Schublade des Schreibtischs seiner Schwester. Verdammt, dieser Brief.
Mit energischer Wucht riss er die Türe auf. Irgendwie erwartete er, dass diese an der Mauer des Treppenhauses zerschmettert werden würde. Er erwartete, dass die Glasquadrate, die mehr schlecht als recht in die Tür hineingearbeitet waren, in Millionen Splitter zerbersten würden die ihren Weg durch die Luft in seinen Körper fanden. Er erwartete, dass dieser eintretende Schmerz ablenken würde, und seis auch nur für eine Sekunde, er wäre dankbar dafür gewesen. Doch es kam anders.
Die Tür erreichte nicht einmal die Mauer.
So schwach?, dachte er. So schwach sei er geworden? So zerüttet durch seine Gedanken, das sein physisches Äußeres das Innere seiner Seele darstellte? Er blieb mit dem Rücken vor der Tür stehen und sah sich um. Er war schon immer davon überzeugt gewesen, dass er stark genug wäre, um es alleine durchzustehen. Er verstand nicht, wie er sich nun selbst hatte in Stich lassen können. Er verstand es nicht und glaubte auch nicht daran. Erst, als die Tür hinter ihm mit einem metallischen Kratzen zuschwang, sah er klarer. Die Welt hat mit ihm in just diesem Moment abgerechnet. Er wurde von ihr nicht länger gebraucht. Er war überflüssig.
Mit Bedacht rauchte er seine Zigarette zu Ende und versuchte, sich jeder Bewegung seines Körpers bewusst zu werden: das Halten der Zigarette zwischen den Fingern, das Stehen vor der Tür, die Anspannung, die durch seine Beine ging, die Bewegungen des Kopfes. Er spürte, wie die Jacke immer enger wurde und ihm die Luft aus den Lungen drückte, im Angesicht seines nächsten Schrittes. Denn dieser würde ihn nicht, wie zuvor geplant, entlang des Bürgersteiges zum Finanzamt bringen. Dieser würde sein Leben verändern, da war er sich sicher.
Und wie er die Zigarette zu Boden warf, sie austrat und den VW Transporter erblickte, der mit eindeutig überhöhter Geschwindigkeit versuchte die gerade auf gelb wechselnde Ampel zu passieren, schritt er Vorwärts, den Bürgersteig hinab auf die hoch frequentierte Kreuzung.